Nummer 2/2022
Schüsse auf die Regierungsbank

Kein Jux! Es geht hier nicht um verbale Schüsse von Bänken der Opposition in Richtung Regierungsbank, sondern von Revolverschüssen von der zweiten Galerie.
Jede Geschichte hat ihre Vorgeschichte:
Im September führten die Sozialdemokraten einen erbitterten Kampf gegen die Verteuerung der Lebensmittel. Auch aus Frankreich wurden Teuerungsrevolten vermeldet. Am Sonntag dem 17. September fanden in der Provinz und in Wien Protestveranstaltungen statt, welche in einzelnen Bezirken durch Zusammenkünfte vorbereitet wurden. Für die Protestveranstaltung sammelten sich die Teilnehmer bezirksweise bei Sammelpunkten, um von dort über die Ringstraße zum Rathaus zu marschieren.

Arbeiterzeitung vom 17. September 1911

Bei dieser Demonstration der Verzweiflung, so die Arbeiterzeitung, hätte die Regierung die Kavallerie aufgeboten, die in Ottakring auf bereits heimziehende Demonstranten, das Feuer eröffnete und mit dem Bajonett vorging. Es gab einen Toten und zahlreiche Verletzte. Aus allen Stadtteilen wurden blutige Ausschreitungen vermeldet. 263 Personen wurden verhaftet. Bereits am 19. September begannen die ersten Gerichtsverhandlungen gegen Demonstranten, in der damaligen Sprache als Exzedenten oder Tumultuanten bezeichnet. Weitere sollten folgen. Soweit, stark verkürzt und unvollständig, die Vorgeschichte.

Zunächst die Berichte über das Attentat:
In der 9. Sitzung des Abgeordnetenhauses befasste sich der sozialdemokratische Parteivorsitzende Dr. Adler mit der Teuerung. Dabei ging er auf kürzliche Teuerungsexzesse ein: 'Nicht darüber wundern Sie sich, daß einmal ein Ausbruch erfolgte, sondern das täglich sich wiederholende Wunder ist, daß diese ganze Masse im ganzen Österreich es ertrage und nicht losgehe. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen bei den Sozialdemokraten.)' 1) In dieser Stelle der Rede wurden von der Galerie vier Schüsse gegen die Regierungsbank abgegeben.

Der Täter wurde festgenommen und der Polizei übergeben. Der Vorgang wird kurz beschrieben:
Ein 25jähriger Tischlergehilfe, Nikolaus Njegus aus Sebenico (Dalmatien), feuerte von der zweiten Galerie, in Richtung des Justizminister Dr. Ritter von Hochenburger, mehrere Schüsse ab. Dieser blieb unverletzt. Soweit die Wiener Zeitung. Die Tageszeitung Die Zeit berichtet, dass der Schütze nach der Abgabe des ersten Schusses 'Hoch die internationale Sozialdemokratie!' ausgerufen hatte. 2)

An der Teuerungsfrage sei es den Sozialdemokraten besonders wichtig, diese als Agitationsstoff und Hetzmittel instrumentalisieren zu können. 'Auch gestern hat Dr. Adler es in seiner Rede nicht an versteckten Drohungen und Aufreizungen fehlen lassen und es ist sicherlich kein Zufall, daß gerade bei einer solchen Redewendung, der auf der Galerie anwesende 'Genosse' des Führers Dr. Adler, seinen Revolver in Tätigkeit setzte […].' 3)

Njegus bestritt die Existenz eines Komplizen, jedoch konnte der Parteiangestellte des sozialdemokratischen Holzarbeiterverbandes Josef Paulin verhaftet werden. Er besorgte für sich und Njegus über den sozialdemokratischen Abgeordneten Widholz die Karten für die Galerie. Dort zeigte er Njegus den Justizminister.

Die Arbeiterzeitung, das Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie, verurteilt das Attentat, vielmehr aber verurteilt sie aber Versuche ihrer politischen Gegner die Tat als Folge von Verhetzung durch sozialdemokratische Redner hinzustellen: Die Feinde der Arbeiterklasse versuchten die Untat des dalmatinischen Arbeiters als Frucht der Reden und der Agitation der Sozialdemokraten zu instrumentalisieren.

Am 29. November begann der Prozess. Njegus blieb bei seiner Aussage in der Voruntersuchung, dass er den Justizminister erschießen wollte, weil er während der Rede Dr. Adlers über die Teuerungsdemonstration gelacht habe. In der Verhandlung schwächte er seine früheren Aussagen ab, er hätte auf den Minister nicht gezielt, sondern bloß in seine Richtung gefeuert. Nikola Njegus wurde zu sieben Jahren schwerem Kerker verurteilt. Eine Nichtigkeitsbeschwerde wurde eingebracht.

Von Seiten der Sozialdemokratie wird das Urteil heftig kritisiert. Die Verhandlung wird als Inszenierung bezeichnet und über die Begründung der Strafe ist in der Arbeiterzeitung zu lesen: 'Und welche ist die Begründung für die Strafe, die unseres Wissens in Wien für einen Mordversuch, bei dem nur Holz ein Loch bekam, noch nie ausgesprochen wurde?' 4) Dem Gericht wird ferner vorgehalten, Erschwerungsgründe berücksichtigt, aber Milderungsgründe vernachlässigt zu haben.

Die Reichspost (Unabhängiges Tagblatt für das christliche Volk Oesterreich-Ungarns) beschreibt den Verurteilten als einen Verführten: 'Es hat einer von denen, die das taten, was die Führer redeten, wieder daran glauben müssen, daß es ein Verbrechen und nicht eine Tat für die Freiheit und das Glück war, was sich ihm in seiner irregeführten, verderbten Phantasie als die Vollendung seines sozialistischen Denkens aufdrängte.' 5)

Brandreden gegen politische Gegner, in einer entwickelten Demokratie eigentlich politische Mitbewerber, könne dazu führen, dass psychisch labile, ökonomisch und soziale marginalisierte Menschen, sich zu Wahnsinnstaten hinreißen lassen. Dies trifft dann besonders zu, wenn sachliche Argumente durch moralische Zuschreibungen, wir sind die Guten die Anderen sind die Bösen, durchgehend als Taktik gebraucht werden. Hier wird nicht gegen Standpunkte argumentiert, sondern gegen den Andersdenkenden die Moralkeule geschwungen. Fortgesetze Unterstellungen werden flankierend zur Herabsetzung Andersdenkender, im Sinne von 'audacter calumniare semper aliquid haeret' d.h. 'verleumde nur dreist, irgendetwas bleibt immer hängen', eingesetzt.

Text: AH Jux


1) Wiener Zeitung, Wiener Abendpost, Beilage zur Wiener Zeitung. 5. Oktober 1911. S.3.
2) Die Zeit. 5. Oktober 1911. S.1. Abendblatt.
3) Deutsches Volksblatt, 6. Oktober 1911. S.2.
4) Arbeiter-Zeitung, 1. Dezember 1911. S.7.
5) Reichspost, 1. Dezember 1911. S.1. Morgenblatt.
Kontakt für allfällige Rückmeldungen:
blech-bote@aon.at

zuletzt geändert: 10.02.2022 um 16.48 Uhr