Nummer 2/2023
Fuchsenzeit – anno dazumal

Bei unserem Heringsschmaus erzählte Bb Charon, dass er anlässlich des Ablebens von AH Alfred Schlossarek Edler von Trautenwall vlg. wld. Rasputin im Jahr 2018 (siehe Nachruf im Bord-Journal 1/2019) einen Artikel für die Donaumark-Nachrichten 3/2019 verfasst hat, den er jetzt dankenswerterweise auch uns zur Veröffentlichung überlassen hat.

Rasputin und ein krasser Fuchs (ca. 1965-1968)

Zum besseren Verständnis des Textes muss ich mich als Autor kurz vorstellen: Geburtsjahr 1948, Maturajahr 1967. Ich bin Historiker und war lange in der Nationalbibliothek und in der Parlamentsdirektion berufstätig, rund zehn Jahre Lektor an der Universität Wien. In meiner Pubertät war ich ziemlich orientierungslos und verunsichert. Als spätes Einzelkind litt ich unter Isolation. Mein Vater - er war Bauunternehmer - entzog sich mir: Tagsüber Baustellen, am Abend 'Geschäftsessen' und anderes. Mir fehlte das väterliche, männliche Gegenüber, mir fehlten die nachhaltige Vermittlung von Werten und ein positiv prägendes 'männliches' Umfeld, vor allem ab der Pubertät.

Was sollte ich bei der Suche nach Kontakten, nach Gruppierungen, Vereinen tun? Eine namhafte 'moderne' Gegenwelt der Jugend (Drogen, Partys, wilde Musik) gab es zumindest in meiner Reichweite in den 1960ern nicht. Ich blieb auf das bürgerlich-brave Milieu beschränkt. Auch davon kannte ich nur wenig. Pfadfinder- oder attraktive kirchliche Jugendgruppen ohne den Geruch der 'Kerzerlschleckerei' (es war noch vorkonziliar!) kannte ich kaum. Ich wusste auch nicht, dass es schlagende Pennalverbindungen gab. Und die 'Roten' galten bei mir zu Hause ohnehin als halbe Verbrecher. Grundsätzlich hielt ich trotz der "68er-Zeitströmung" am gewohnten gesellschaftlich-religiösen Rahmen fest. Die linke (teilweise anarchistische) Ideologie hielt ich schon damals für pures Gift für Wirtschaft und Gesellschaft, bestenfalls für strohdumm, für verantwortungslos-naiv.

Dem Gesagten ist zu entnehmen, dass ich in am ehesten für den MKV bereit war. Ich wurde Spefuchs der KÖStV Liechtenstein. Als ich meine erste Kneipe erlebte, wusste ich, d a s ist es. Einerseits eine klare autoritäre Obrigkeitsstruktur – die Leute in den 'Uniformen' hauten mit ihren 'Säbeln' auf den Tisch und sagten allen, auch Älteren, was Sache war – anderseits weit entfernt von der schrecklichen Schule und meiner mir fremd gewordenen Familie. Und drittens, ganz wesentlich, ich durfte nicht nur, ich musste Bier trinken, teils sogar auf Kommando. Es war damals üblich, die Füchse mit Bier zuzuschütten, sie endlos 'stärken' zu lassen und dergleichen mehr. Nach Anlaufschwierigkeiten erkannte ich, dass Alkohol ein scheinbar vorzügliches Fluchtmittel aus der Realität darstellt – ich wurde leicht, beschwingt und mutig. Auf dem Weg zu einer entscheidenden Mathematik-Prüfung zum Beispiel (der Professor, mit einem Vornamen hieß er 'Adolf', war ein sadistischer ehemaliger Angehöriger der HJ – vielleicht NAPOLA-Schüler – gewesen) summte ich für mich, noch etwas benebelt von der Kneipe des Vortags, das Lied 'der Gott, der Eisen wachsen ließ' und bestand die Prüfung mit Bravour. Phantastisch. Heil Liechtenstein, heil MKV und die neue Lebensweise? Alles in Ordnung? Nicht ganz. Senioritätsprinzip gut und schön, Kneip-Präsidium auch, aber mir fehlte etwas. Heute weiß ich, dass es im Grunde eine neue lebensentscheidende Autorität war, ein Vaterersatz. Woher einen Vater nehmen? Paul Federn, jüdischer österreichischer Arzt, Psychoanalytiker und Freudianer, schrieb:

'Gott und Kaiser haben die besondere Stellung in der Vaterreihe gemeinsam, dass man ihnen anhängt, ohne sich mit ihnen zu messen und ihre Höhe erreichen zu wollen. […] Das Kind hat das Verlangen, von einem […] Wesen abzuhängen, dessen Größe, Macht und Wissen ihm absolute Sicherheit und Schutz gewähren. Der Wunsch nach einem solchen Vater lässt eben den wirklichen Vater fallen und bleibt als Bedingung für die Wahl der Vatergestalten. Er schafft die Intensität der Verehrung und Abhängigkeit für die späteren Autoritäten, als letztes irdisches Abbild, für den König und Kaiser. Der Sicherheitsgewinn der uralten Wunscherfüllung, die in der tiefsten Seele das Paradies der Kindheit mit seinem unvergleichlichen Vater bewahrte, erhielt sich trotz der Kritik des Verstandes.'

Ich flüchtete in die Vergangenheit. Wer war für mich naheliegender als Kaiser Franz Joseph? Bücher der väterlichen Bibliothek und die Nähe unserer Wohnung zum Schloss Schönbrunn, wo ich sonntäglich öfters in der Schlosskapelle die Messe besucht hatte, waren ebenfalls förderlich. Ebenso lange 'meditative' Spaziergänge im Schlosspark, dessen Genius loci mich prägte. Ferner keimten in mir die Erkenntnisse auf, dass Demokratie in der Praxis auch Korruption und Schacherei bedeutet, dass das republikanische System nicht unbedingt den Durchbruch zu optimalen Zielen bewirken muss und die Plebs vielfach das Sagen hat. Stimmen sollten 'gewogen', nicht gezählt werden.

Ich wurde Legitimist. Nur – wie passte das zur 'Liechtenstein'? Gar nicht. Sie war in den 1960er-Jahren eine 'normale' republikanisch-österreichische katholische MKV-Verbindung mit geringen deutschnationalen Resten. Ein wenig Antisemitismus (aber 'nur' christlich-sozialen als Erbe der Karl-Lueger-Zeit) gab es auch, jedenfalls im Liedergut des Inoffiziums. Im Fuchsenstall der 'Liechtenstein' gab es sogar einen entschiedenen Deutschnationalen (er ging später zu den Schlagenden). Einmal brüllten wir uns liedmäßig an – er sang die deutsche Hymne, ich das 'Gott erhalte.' Ferner stellt der Name der Mutterverbindung 'Borussia' bekanntlich einen Bezug zu historischen Erbfeinden Österreichs her, zu den Preußen, was mich auch störte.

Ich begab mich auf die Suche. Noch als Krassfuchs der Liechtenstein besuchte ich unzulässigerweise in vollem Couleur Veranstaltungen, die ich für monarchistisch hielt. Einmal wurde ich als Teilnehmer eines Marsches der Deutschmeister-Kapelle vom Volk gefeiert! Wirklich fündig wurde ich im Laufe des Jahres 1965 in einem tiefen Kaffeehaus-Keller im dritten Bezirk, unmittelbar neben der Schnellbahnstation Rennweg. Die KÖML Tegetthoff. Gleich bei meinen ersten Besuchen lernte ich meinen späteren Leibburschen kennen, ferner Rasputin und einen weiteren Tegetthoffer, gebildet, etwas zynisch und mokant (später wurde er Diakon). Ein bei der Landsmannschaft oft anwesender Kreuzensteiner, eloquent, beleibt und etwas hinkend, war ein vorzüglicher Monarchie-Theoretiker, mein späterer Leibbursch ein hervorragender 'Monarchie-Praktiker' in Mimik, Gestik und Sprache, im Auftreten der geborene liebenswürdig-degenerierte Adelige (er führte als eine Art 'Lebenshauptaufgabe' den genealogischen Nachweis, illegitimer Spross einer ehemals bedeutenden regierenden Familie zu sein).

Rasputin gab sich als Aristokrat, obwohl er, wie ich heute weiß, 'nur' aus einer im 19. Jahrhundert geadelten Familie des österreichischen Militäradels entstammte, somit der 'Zweiten Gesellschaft', die Welten von der wirklichen alten Aristokratie trennten. Ein Schloss, einen Landsitz oder auch nur einigermaßen Geld hatte er freilich nicht, obwohl er oberflächlich diesen Eindruck zu erwecken verstand.

Rasputin wurde nicht vollständig, aber doch teilweise für mich eine Art Vaterersatz. Er lehrte mich manches (z.B. theoretische und empirische Hinweise auf die österreichische Gesellschaft und Politik).

In meiner pubertären Phantasie waren Rasputin, 'der Diakon' und mein Leibbursch die drei Musketiere. Der sich großartig gebende Rasputin mit seiner gewaltigen Haarmähne und einem lang gewachsenen Fingernagel zum Kratzen im Bart war in meiner Phantasie Athos, der Graf. 'Der Diakon' gab den großsprecherischen Porthos und mein Leibbursch den frommen Aramis. Wir haben nächtelang getrunken, wie die Schlote geraucht, schwadroniert, die Gegenwart und die Republik kritisiert. Ich war selig. Hier war die Gegenwelt, die ich gesucht hatte. Einmal, erinnere ich mich, hatten wir alle miteinander in den frühen Morgenstunden keinen Alkohol mehr, nichts zum Rauchen und kaum mehr Geld. Wir fuhren zu meiner elterlichen Wohnung. Ich holte die Reste meines gesparten Taschengelds und weiter ging’s. In dem Nachtcafι, in dem wir dann saßen – ich noch im Liechtenstein-Fuchsencouleur (!) – spendierte uns ein Betrunkener einige Runden, weil er mich wegen meiner grünen Mütze für einen 'Rapidler' hielt …

Die Liechtenstein ließ mich mit Bedauern ziehen. Einige Bundesbrüder, vor allem jüngere, waren betrübt, dass ich bereits bestehende menschliche Bindungen wegen einer fixen – in ihren Augen blödsinnigen – Idee lösen wollte. Es hätte nämlich nichts dagegen gesprochen, als Aktiver oder Alter Herr der Liechtenstein ein Band der KÖML Tegetthoff anzustreben …

Wie nahm mich die KÖML Tegetthoff auf? Zwiespältig. Einerseits war ich seit längerer Zeit der erste Fuchs und wurde vor allem von Rasputin mit offenen Armen aufgenommen. Anderseits war ich weltanschaulich extrem fixiert und konnte, wenn ich viel trank, ziemlich unangenehm sein. Ferner gab es einige Tegetthoffer, die – zu meiner grenzenlosen Überraschung – demonstrativen Legitimismus ablehnten. Es gab damals in der Tegetthoff Spannungen und Parteiungen. An Details erinnere ich mich kaum.

Mein späterer Leibbursch hatte sich am weitesten aus der realen Gegenwart entfernt, er lebte in einer 'historischen Traumwelt.' Deshalb bat ich ihn und nicht Rasputin, mein Leibbursch zu werden! Ich wurde bald Brandfuchs und Bursch. Mir gegenüber distanziert waren einige Bundesbrüder. Von wahrer Bundesbrüderlichkeit war allgemein wenig zu merken, weil keiner der Bundesbrüder auf mich, den jungen Fuchsen (Burschen), menschlich herzlich und offen zuging und meinen eventuellen Bedarf nach (therapeutischer) Hilfe auszuloten versucht hätte. Nur Sauflieder statt Empathie sind dürftig …

Mit Rasputin blieb ich noch einige Zeit in Kontakt. Charmant und eloquent fand er Zugang zu meinen Eltern (meine Mutter war von ihm angetan). Er war mit seiner Frau einige Male Gast in einem meiner Familie gehörenden alten Bauernhof bei Stockerau. Durch meine Vermittlung kaufte er sich in der Ortschaft an. Ich erinnere mich an einige gemeinsame vergnügliche morgendliche Auto-Fahrten in Rasputins klappriger 'Ente' (einem 2CV) nach Stockerau. Es war das erste Auto meines Lebens, das ich ohne Führerschein kurz lenken durfte …

Allmählich stellte sich bei mir ein 'postpubertärer' Paradigmenwechsel ein. Ich erkannte, dass ich in jugendlicher, fast kindlicher Naivität alle Tegetthoffer - und in gewisser Weise auch alle MKVer - idealisiert, auf einen Podest gestellt hatte, auch Rasputin! Im Grunde waren es normale Menschen gewesen, die sich des Abends fallweise mit Band und Deckel (oder Vollwichs) verkleideten und mehr oder minder wichtige Rollen in einem Verein spielten, teils auch, um Defizite ihrer sozialen Realität zu kompensieren. Um wenigstens in einem Verein jemand zu sein. Auch die 'großartigen Musketiere' Rasputin und 'der Diakon' waren im Grunde 'nur' gescheiterte Studenten gewesen, de facto finanziell oft klamme Angestellte, geplagt von Ehe- und anderen Sorgen. In der Verbindung spielten sie aber die großen Herren. (Rasputin hatte, wenn ich mich recht erinnere, ein Jus-Studium begonnen.)

Etwas später (um 1969) entschwand Rasputin aus meinem Leben. Nach seiner Scheidung wanderte er nach Mittelamerika aus. Ich habe ihn nie wieder gesehen, aber oft an ihn gedacht. Er war, wenn ich alles nur in allem nehme, ein wichtiger Teil meiner Jugend gewesen, bemerkenswert, interessant und auch sehr eigen …
Text: Charon (TEW)

Anmerkungen:

'Edler von', Militäradel: Karl F. von Frank zu Döring: Alt-Österreichisches Adels-Lexikon ( Wien 1928); Karl Megner: Zisleithanische Adels- und Ritterstandserwerber 1868–1884. Institut für Österreichische Geschichtsforschung, ungedruckte Hausarbeit (Wien 1974)

Federn, Paul: Zur Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft ( Leipzig 1919)

HJ: Die Hitlerjugend oder Hitler-Jugend war die Jugend- und Nachwuchsorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Sie wurde ab 1926 nach Adolf Hitler benannt (Wikipedia)

NAPOLA: Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (amtlich: NPEA, auch: Napola – Nationalpolitische Lehranstalt oder Napobi – Nationalpolitische Bildungsanstalt) waren Internatsoberschulen, die nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 als 'Gemeinschaftserziehungsstätten' gegründet wurden. Der Besuch der Schulen führte zur Hochschulreife. (Wikipedia)
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zuletzt geändert: 27.02.2023 um 22.44 Uhr