Nummer 8/2023
Die bürgerliche Mitte

Welche Werthaltungen und sozialen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen gibt es, um dieser Mitte anzugehören? Dem wurde beim WA auf der Bude der Tegetthoff gemeinsam mit dem Autor nachgegangen.

'Was haben der gesellschaftliche Mittelstand und der sibirische Tiger gemeinsam? Beide sind akut vom Aussterben bedroht.' So die Aussage eines Bloggers vor bereits 8 Jahren. (Peter Schöndorfer, Depescheausoesien.blog vom 21. Mai 2014) Und weiter: 'Aber die Großkatze hat bessere Überlebenschancen, gibt es doch weltweit Menschen und Organisationen, die sich lautstark für sie einsetzen. Im Gegensatz dazu stirbt der Mittelstand heimlich, still und leise.' Diese Einschätzung zum 'Aussterben der Mitte' bzw die Aussage: 'das Extreme scheint der neue Durchschnitt zu sein' (MDR, mdr.de/wissen/werden-wir-immer-extremer-100.html) werden, obwohl der gesellschaftliche Mittelstand mit der bürgerlichen Mitte nicht immer zusammenfällt, heute von vielen Menschen geteilt. Und die Schlagzeilen der letzten Zeit scheinen ihnen allen Recht zu geben.

Dennoch stellt die bürgerliche Mitte eine gesellschaftliche Gruppe dar, die in vielen Ländern eine wichtige Rolle spielt. Man kann mit Fug und Recht konstatieren, dass die bürgerliche Mitte wichtig für unsere Gesellschaft ist. Doch was genau ist die bürgerliche Mitte und welche Bedeutung hat sie in der heutigen Zeit? Im Kern geht es um Personen, die wirtschaftlich und gesellschaftlich erfolgreich sind oder sein möchten. Dabei verbinden sie meist traditionelle Werte mit modernem Lebensstil und haben ein großes Interesse an politischer Stabilität und vernünftigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Hier kommen vor allem die Werte der sozialen Marktwirtschaft und der Demokratie zum Tragen. So engagieren sich Anhänger der bürgerlichen Mitte oft in Parteien und setzen sich für eine starke Wirtschaft und eine weltoffene und tolerante Gesellschaft ein.

Ein Gleichnis kann näher verdeutlichen, wie die bürgerliche Mitte funktioniert und wie sie sich darstellt und wirkt. Man stelle sich eine reife, süße Melone vor. In dieser sind die Samen die handelnden Personen, die 'Bürger'. Sie stehen für die Arbeit, die geleistet wird und die Zukunft, aus der weiterer Wohlstand und gesellschaftliche Prosperität erwachsen können. Das süße, wohlschmeckende Fruchtfleisch ist der 'Output'. Das, was durch die Gesellschaft nutzgenossen werden kann, die Belohnung für die Aktivität der Bürger. Nun möchten auch viele andere an diesen Belohnungen teilhaben, die aber nichts eingebracht haben. Es sind dies Wespen und anderes Getier, die gerne das süße Fleisch der Melone fressen würden. Um nicht unterzugehen und die Zukunft den räuberischen Wespen überlassen zu müssen, bildet die Melone (übrigens aus denselben Zellen wie die restliche Frucht) eine harte Schale aus, wo die Schmarotzer und Fressfeinde nicht an die eigentliche Frucht herankommen. Diese Schale sind die Werte, nach denen man sich orientiert und die Widerstandskraft geben.

Aus diesem Gleichnis ergeben sich drei Dinge, die jede bürgerliche Gesellschaft ausmachen: Erstens die Bürger (die Samen), sie sind die Keimzellen und Knotenpunkte der Gesellschaft überhaupt. Zweitens die Ziele und Ergebnisse (das Fruchtfleisch), die positiven Wirkungen auf die Gesellschaft ausüben. Das sind Zukunftsplanung und die aktuellen, praktischen Produkte für das Prosperieren der Gesellschaft. Und drittens das Skelett, das beides ermöglicht und überdauern lässt (die Schale). Das sind die Werte, ohne die eine Gesellschaft nicht auskommt. Es ist diese notwendige Dreifaltigkeit von Bürger, Prosperität und Wert, die unbedingt zusammenkommen muss, wenn von einer bürgerlichen Mitte gesprochen wird.

Der Bürger hat vier Betrachtungswinkel. Einen politischen, einen ökonomischen, einen sozialen und einen kulturellen. Politisch stellt er sich als Gleicher unter Gleichen dar, der durch die Teilhabe an politischen Rechten und Pflichten abwechselnd sowohl regiert als auch regiert wird. Nach der Französischen Revolution zeigte sich auch die Nation als Zusammenschluss aller freien und gleichen Staatsbürger (Citoyen), die in der Folge wahlberechtigt und wählbar wurden. In ökonomischer Hinsicht wurde der Bürger (zB. bei Aristoteles) untrennbar mit Autarkie verbunden – der Fähigkeit zur Selbsterhaltung. Im Mittelalter etablierte sich daraus ein unternehmerisches Bürgertum und gewann im Rahmen seiner ökonomischen Ressourcen politischen Einfluss gegen Klerus und Adel. Außerdem grenzte es sich als Eigentümer von den besitzlosen Proletariern, wie auch von den Bauern als zusätzlicher Stand, ab. Dies führt unweigerlich zur sozialen Dimension des Bürgerbegriffs: Seit der Aufklärung treten die Bürger als soziale Gruppe für Unabhängigkeit, Emanzipation und (relativ) gleichen Bildungshorizont auf. Vor allem das Bildungs- und Besitzbürgertum hatte seitdem auch eine kulturelle, mäzenatische Funktion, die neben die aristokratisch-klerikale Kultur trat, indem sich Freiheit und Toleranz als universaler Anspruch des neuzeitlichen Humanismus durchgesetzt haben. Und diese vier Dimensionen bezeichnen auch heute noch was wir als 'bürgerlich' betrachten: a) politisch frei & privilegiert, b) ökonomisch autark, c) gebildet & emanzipiert und d) kulturell interessiert.

Nun sind dem Bürgertum (als heterogener Teil einer Gesellschaft) naturgegebenermaßen viele verschiedene 'Bürger'-Gruppen inhärent. Bürgerliche 'Mitte' meint dabei eine bestimmte Haltung und die Einbettung zwischen zwei oder mehreren gesellschaftlichen Polen. Die nicht leicht fassbar. Schon Johann Friedrich Herbart zeigt in seiner Bestimmung der 'Mitte des Menschen': 'Des Wechsels bedarf der Mensch, um sich zu entwickeln und zu bilden; versuchen muss er sich, versuchen muss ihn die Welt; denn nur in der Mitte des Handelns und des Leidens entspringt jene Selbständigkeit, die, nachdem sie da ist, sich als dauernd, als beharrend, allem ferneren Wechsel innerlich entgegenstemmt.' Er definiert die Mitte also mit den Begriffen 'um die Mitte herum'. Also 'Wechsel', 'Versuch', 'Handlung', 'Leiden', 'Selbstständigkeit' und wieder 'Wechsel'. Es ist also ein Begriff, der nur relativ über seine Aktionen und deren Wirkung beobachtbar ist.

Die 'Mitte' ist ein vielfach verwendeter Begriff in abstrakten Diskursen, wo es viele Mitten gibt, aber keiner weiß, wo diese liegen. Im Gegensatz dazu können Extreme ('die Linken', 'die Rechten'), gut definiert werden, weil sie Endpunkte oder Übergänge darstellen. Aber: Es gibt eine politisch-ideologische Mitte! Sie ist nicht exakt bestimmbar, aber man kann sie theoretisch umschreiben und praktisch erfahren. Und genau das ist ein wichtiges Attribut der ideologisch-politischen Mitte: Sie kann nicht durch (relativ) klare Abgrenzung(en) definiert werden. Damit vereint sie aber auch Widersprüche wie keine andere der 'klaren' Ideologien und der 'einfachen' Weltbilder. Die anderen Weltinterpretationen können also zumindest gewisse deutliche Abgrenzungen aufweisen oder eindeutig ein Feindbild, eine Anti-Vorstellung und ähnliches beschreiben. Bei der Mitte gibt es diese einfachen Gegensätze nicht. Sie bleibt beschreibend oberflächlich bzw. sie bleibt formal 'unscharf'.

Letztlich zeichnet sich die Mitte vor allem durch folgendes aus: Sie integriert die in jeder Gesellschaft entstehenden, ansonsten nicht auflösbaren Widersprüche. Sie kann diese Widersprüche zumindest bis zu einem gewissen Ausmaß tolerieren und mit ihnen umgehen. Die politische Mitte ist also ein unverzichtbarer politscher, sozialer und kultureller Integrationsfaktor, den die Gesellschaft unbedingt benötigt. Sie ist der dauerhafte 'Klebstoff' der Gesellschaft. Erst mit einer vernünftigen Mitte kann ein dauerhaftes Prosperieren der Gesellschaft passieren. Aber: Auch die Mitte braucht Exzentrik – sie braucht Impulse und Dynamik. Die Dynamik hält die Mitte lebendig, dabei sollte die 'Zentrifugalkraft' der Veränderung die Anziehung der Mitte nicht übersteigen. Die 'Zentripetalkraft' der Mitte ist aber nach geschichtlicher Erfahrung grundgegeben und stark. Es gab zum Beispiel immer wieder Umbruchs-Ereignisse, die die Gesellschaft von der 'Mitte' entfernten (Französische Revolution, Nationalsozialismus, ...). Diese Umbrüche und Pendel-Ausschläge der Geschichte waren jedoch nur von deutlich begrenzter Dauer. Die zeitliche und strukturelle Begrenzung solcher exzentrischer Verschiebungen (je extremer desto kürzer) bezeugt dabei die 'Kraft der Mitte'.

Im Gegensatz zu anderen Ideologien steht die bürgerliche Mitte fundamental dafür, dass a) Der Staat für die Bürgerinnen und Bürger da ist und nicht umgekehrt. b) Es deshalb den Menschen nicht vorgeschrieben wird, wie sie zu leben haben. Und c) Es für jeden Menschen eine Aufgabe in der Gesellschaft gibt. Wenn diese drei Punkte erfüllt sind, gibt es ein prosperierendes und für alle funktionierendes Gemeinwesen. Der Staat ist eine Serviceleistung für selbständige, leistungswillige Bürger, die nachhaltig und sozial agieren. Der Einzelne kann sich entfalten und das Gemeinwesen profitiert davon.

Das alles kann nicht auf der Grundlage einer 'schiefen Ebene' oder einer Überbetonung nationaler oder fundamentalistischer Werte fußen. So ist beispielsweise nicht möglich, alle Individuen einer Bevölkerung exakt gleich zu behandeln. Es muss stratifikatorische und personale Unterschiede geben.

Werthaltungen, die die bürgerliche Mitte befördern, die die 'Schale' der Melone bilden, von der am Beginn die Rede war sind: Freiheit, Verantwortung, Nachhaltigkeit, Leistung, Solidarität, Subsidiarität und Gerechtigkeit. Das Fundament eines westlichen Wertesystems der bürgerlichen Mitte ist ein (mehr oder weniger) christliches, jedoch notwendigerweise humanistisches Menschenbild. Hinzu kommen noch eine gewisse (positive) Form der Konservativität und des strukturell angepassten Liberalismus.

In Zeiten politischer Umbrüche und gesellschaftlicher Veränderungen ist die bürgerliche Mitte ein Stabilisator, der als ausgleichende Kraft zwischen verschiedenen politischen Interessen wirkt. Die bürgerliche Mitte steht dabei für eine pragmatische Politik, die auf Konsens und Zusammenarbeit setzt. Das Ziel dabei ist, die gesellschaftliche Entwicklung im Sinne aller Bürger voranzutreiben. Daher ist es unbedingt für die Mitglieder der bürgerlichen Mitte notwendig, Grenzen zu ziehen und nicht für 'alles offen' zu sein. Das heißt die 'Wespen' abzuwehren und sich der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden, unterschiedlich sozialisierten oder ideologisch Differenzierten zu stellen. Hier müssen die Mitglieder der bürgerlichen Mitte tätig werden!
Text: aB Dante
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zuletzt geändert: 28.10.2023 um 21.27 Uhr